Boom im Jugend- und Onlineschach begünstigt Elo-Deflation
Das schrittweise absenken der Mindest-Elo im Zeitraum 2001-2012 war von Ratingkonferenzen und öffentlichen Diskussionen über den geeigneten K-Faktor für Jugendliche begleitet, man findet dazu noch mehrere Artikel im Internet. Will man heute im Jahr 2021 erfahren, wie sich die damaligen Änderungen bewährt haben, so tut man sich bei der Suche nach Antworten schwer. Nur weil das Thema aus der Öffentlichkeit geraten ist, konnte ich als Nicht-Fachmann vor zwei Jahren dazu einen Artikel schreiben.
In der Zwischenzeit kontaktierte ich einige Fachleute die an der eingangs erwähnten Diskussion teilgenommen hatten. Die zuständige Qualification Commission der FIDE sieht keine Möglichkeit gegenzusteuern wenn es in Ländern zu einer Art Inselbildung der dortigen Elo-Träger kommt. Der indische Schachverband schweigt. Nur Jeff Sonas, der frühere Verfechter einer Elo-Inflation, sieht mittlerweile ebenfalls einen deflatorischen Effekt „… da die jüngeren/schwächeren Spieler nun die Jahre ihres Spielstärke- Anstiegs innerhalb des Rating Pools verbringen“.
Da aber das Thema weiterhin brach liegt, will ich hier meinen vorherigen Bericht ergänzen, und versuchen den Rating Pool mit Grafiken transparenter zu machen. Das Elo-System hat sich seit vielen Jahren bewährt, vorliegende Suche nach Ungleichgewichten ist nicht als Kritik gedacht, sondern stellt die Frage, ob die hier aufgezeigten Entwicklungen mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Vielleicht wird in diesem Bericht dem Verhältnis Anzahl Jugendlicher zur Anzahl Erwachsener eine zu große Bedeutung beigemessen, dies vielleicht weil … der damals 12 jährige Vardaan Nagpal war mein erster Gegner in Indien. 3 Jahre später kam er nach Europa und es ging für ihn direkt in den Elo-Himmel. Sein Rating stieg in 2 Monaten von 2015 auf 2501! Derartige Fälle führten dazu, dass man in der Folge den K-Faktor für Jugendliche von der Anzahl der im Bewertungszeitraum gespielten Partien abhängig machte. Ich dagegen hatte 3 Jahre später bei meinem 2.Turnier in Indien einen unglücklichen Turnierstart und kam in die Elo-Hölle. Genauer gesagt in die Jugendabteilung von Chennai.
Die Spielerdaten stammen aus dem FIDE-Downloadbereich, die Statistiken basieren auf den Januar-Listen des jeweiligen Jahres. Im Spielerverzeichnis stehen weltweit etwa 8500 Spieler mit einer Elo-Zahl aber ohne Geburtsjahr, diese konnten bei altersabhängigen Statistiken nicht berücksichtigt werden.
Jahr | 1970 | Jan-1993 | Jan-1999 | Okt-2001 | Jul-2004 | Jan-2006 | Sep-2009 | Aug-2012 |
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Rating Floor | 2200 | 2005 | 2000 | 1800 | 1600 | 1400 | 1200 | 1000 |
Um den Auswirkungen des abgesenkten Rating Floors gegenzusteuern, wurde 2014 der K-Faktor für Jugendliche mit Elo<2300 von K=20 auf K=40 erhöht.
Lassen sie sich nachfolgend durch das sinkende Elo-Gesamtniveau nicht verwirren! Denn durch die abgesenkte Mindest-Elo haben sich natürlich auch die Durchschnittswerte abgesenkt, allein in den letzten 10 Jahren um etwa 300 Punkte. Das hat nichts mit Deflation zu tun!
Kann man aber bei den Elo-Zahlen von Inflation oder Deflation sprechen, wenn sich das Niveau der Top100 ändert? Ich halte es da mit dem polnischen GM Bartlomiej Macieja, der bei der FIDE Ratingkonferenz 2010 meinte „Ich möchte messen was mit Bewertungen von Spielern passiert, die ihr Niveau halten. Wenn ihr Rating steigt, nenne ich es Inflation, wenn ihr Rating sinkt, nenne ich es Deflation.“
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Der Blick auf die fünf Schachnationen mit der höchsten Anzahl an Elo-Trägern zeigt viel Individualität. Wenn schon bei 5 Nationen solche individuellen Unterschiede sichtbar sind, wie ist das dann erst weltweit? Es geht nicht um die Einebnung der Unterschiede, denn Individualität und gerechte Bewertung können ja nebeneinander existieren. Überlagernde Effekte lassen diese oder jene Deutung zu, was bedeutet dann „gerechte Bewertung“? Im ersten Schritt wohl „diese oder jene Deutung“ zu untersuchen und vielleicht auch öffentlich zu diskutieren damit daraus abgeleitete Maßnahmen verständlich werden. Dazu gehören auch unbequeme Fragen wie … warum werden Spieler inaktiv? dient es der Verbreitung der Elo-Zahlen wenn Schachnationen an den Elo-Gebühren mitverdienen? nimmt durch das Internetschach der Abstand zwischen Spielstärke und Elo-Zahl zu? Welchen Einfluss hat ein hoher Jugendanteil?
Die Jugend war nicht von Anfang an im Rating Pool, dieser Integrationsprozess bedarf evtl. weiterer Anpassungen. Sind die vielen Spieler im niedrigen Elo-Bereich korrekt eingestuft?
Sicher keine leichte Aufgabe für die FIDE. Diese sollte beim Rating System ihren Fokus auf die Schach- Elite hinterfragen und den Blick verstärkt auch auf die Basis richten. Wahrscheinlich tut sie dies auch, berichtet aber zu wenig darüber. Die regelmäßig veröffentlichten Ranglisten schaut man sich immer gern an. Dazu wären aber auch mehr Hintergrund-Informationen für die Allgemeinheit von Interesse. Was für eine Vision hat die FIDE bei der Verbreitung der Elo-Zahlen und welche Fortschritte und Hindernisse gibt es auf dem Weg eine möglichst gerechte Spielstärkebewertung zu erreichen?
Überbewertete und unterbewertete Spieler wird es immer geben. Die Freude am Schach sollte immer über der Elo-Zahl stehen!
Walter Wolf, Juni 2021