Elo-Zahlen auf dem Rückzug?


Untersuchung zur Auswirkung der herabgesetzten Mindest-Elo

Verfolgt man das weltweite Schachgeschehen so fallen einem immer wieder Spieler auf, deren niedrige Elo-Zahl nicht so recht zur Turnierleistung passt. Es gibt scheinbar abhängig vom Land unterschiedlich starke Unterbewertungen und wohl auch unterschiedliche Begründungen dafür. Anlässlich meines Berichts über das Schach in Indien habe ich mich mit den Regeln der Elo-Berechnung befasst und Schachspieler befragt die sich für das Thema interessieren.

Vorliegender Bericht untersucht die Auswirkung des abgesenkten Rating-Floors (Mindest-Elo) auf die Elo-Zahlen, ein Thema das selten im Blickfeld des öffentlichen Interesses stand, obwohl dies die Anzahl jugendlicher Elo-Träger deutlich erhöht. Das Elo-System macht einen etwas unvorbereiteten Eindruck drauf, und es stellt sich die Frage, ob die Regeln der Elo-Berechnung den Spielstärkeanstieg der Jugendlichen ausreichend beschreiben.

Die hier gemachten Auswertungen erfolgten mit den im FIDE-Archiv hinterlegten Spielerdateien die bis 2001 zurückreichen. Die Daten vor 2001 stammen von der Webseite OlympBase. Es wurden jeweils die Januar-Listen für statistische Auswertungen herangezogen. Den Status (i)naktiv bekommt ein Spieler bei der FIDE, wenn er in den vorherigen 12 Monaten keine Elo-Auswertung hatte. Ist nachfolgend der Status nicht gesondert aufgeführt so handelt es sich um aktive Spieler.

Die Entwicklung der Elo-Zahlen seit 1970

Um für den Leser die Entwicklung der Elo-Zahlen etwas transparenter zu machen zuerst ein Blick in die Geschichte.

Das Elo-System wurde 1970 von der FIDE übernommen, erst 1986 erreichte man die Anzahl von 5000 Elo-Trägern. Nicht jedes Land hat so konstante Mitgliederzahlen wie Deutschland, weltweit bauen sich die Alterspyramiden bei den Elo-Trägern weiterhin auf, selbst die Ausbreitung in alle Länder der FIDE ist noch nicht abgeschlossen.

Tabelle 1: Durchschnittswerte der aktiven Elo-Träger einiger Länder (Stand Januar 2019)
Land Elo-Träger Ø-Alter ØTop100 Ø-Elo Frauen Ø-Alter Ø-Elo U18 Ø-Alter Ø-Elo
Welt16757537270316571688122147248235141395
RUS1131429260416092111201478647113,51394
IND12281252481133314221712765900141258
GER1175346250618568653316681598151622
FRA1364342246215781160301400301614,51354
ESP1496941246816667462514562781151394
ENG17814523931804108291618358141557
USA2501332494185221118166589214,51728
CHN64517,52446178520718173842913,51610

Indien hat 82000 bei der FIDE registrierte Spieler, davon sind 40514 Jugendliche. In Russland sind ebenfalls über die Hälfte der aktiven Elo-Träger Jugendliche. Die USA und China scheinen sich bei ihren inländischen Turnieren etwas außerhalb des Elo-Systems zu bewegen. Der US-Schachverband (USCF) gibt seine Mitgliederzahl mit 90000 an, hat aber nur ca. 2500 aktive Elo-Träger. Auch England hat überraschend wenig Elo-Träger. Die aktivsten Schach-Senioren (60+) findet man in Deutschland, 3229 Senioren haben 2019 den aktiv-Status! Mit den inaktiven Spielern kommt Deutschland auf insgesamt 25160 Elo-Träger, deren Elo-Niveau von 1882 liegt knapp 100 Punkte über dem DWZ- Niveau dieser Spieler. Das Land mit den meisten Elo-Trägern ist Spanien. Nimmt man jedoch die auf passiv-Status stehenden Spieler mit hinzu, so führt Russland überlegen mit 32730 Elo-Trägern, darunter auch viele Jugendliche mit passiv-Status.

Man kann die Zeit seit der Elo-Einführung im Jahre 1970 in 2 Phasen einteilen:
Die erste Phase der Ausbreitung von 1970 bis ca. 2000 war begleitet von einem starken Anstieg der Elo-Zahlen. In den Top 1000 setzte sich dieser Anstieg sogar bis 2012 fort. Für die Ursache dieses Anstiegs der Elo-Zahlen findet man keine klare Begründung. Es ist aber auch nicht zu übersehen dass es heute einfach mehr starke Großmeister gibt als 1980. Siehe Länder wie Frankreich oder China. 1990 gab es keinen Chinesen in den Top100, nimmt man heute China aus der 2019er-Liste so würde das Niveau der Top-100 von 2703 auf 2696 sinken.

Die 2.Phase der Ausbreitung ist von der Absenkung des Rating-Floors (Mindest-Elo) geprägt, was zu einem starken Anstieg meist jugendlicher Elo-Träger geführt hat. Die Elo-Zahlen in den Top1000 haben sich in dieser Zeit recht stabil gehalten, in tieferen Bereichen sinkt das Niveau jedoch, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit. Man fokussiert sich vielleicht auch zu sehr auf die Top100 und auf die Anzahl GM- und IM-Titelträger, deren Anstieg weiter anhält:

Tabelle 2 : IM + GM-Statistik sämtlicher Elo-Träger seit 1985 (aktiv + inaktiv)
Jahr Elo-Träger
aktiv & inaktiv
Ø-Elo Top100 Anzahl GM Ø–Elo GM Ø-Alter GM Anzahl IM Ø–Elo IM Ø-Alter IM
19854673254719524865542398
199091872583301249741944239437
19951701026214832516401431240237
2001369782651735251920632394
20055865126629392520382547239040
200999232268712042525402882238542
2014171842270614442519423283237144
2019325226270616492509433760235746

Der starke Anstieg an Titelträgern ist wohl auch eine Folge der starken Zunahme an Spielern mit einer Elo-Zahl und der Zunahme von Turnieren, bei denen man solche Normen erzielen kann. Die Koppelung zwischen Titelnorm und Elo-Zahlen ist für die FIDE ein Grund, die durch die Elo-Zahl ausgedrückte Spielstärke einigermaßen mit früheren Zeiten vergleichbar zu halten.

Wie sieht es also weltweit mit den Zahlen in den tieferen Elo-Rängen aus?

Tabelle 3 : Spieler mit aktiv-Status - Ø-Elo der Top-nn
Jahr Anzahl
aktiv
Ø-Elo Top-
100
Ø-Elo Top-
1000
Ø-Elo Top-
10000
Ø-Elo Top-
20000
Ø-Elo Top-
30000
Ø-Elo Top-
40000
Ø-Elo Top-
50000
Ø-Elo Top-
60000
Ø-Elo Top-
80000
Ø-Elo Top-
100000
Ø-Elo Top-
120000
1975153425442391
1980289725482413
1985467325472422
1990918725832458
199515171261924912313
2001290412648251723332257
200544825265925312341226622142167
2006523822665253423422267221621722126
2007599542669254023442268221721742133
20086596326762545234322652213217021292085
2009579462685254923322243218221282073
20106386226892552232722392178212520732015
20117647926962555233022432184213520902044
201285428270225572330224221832134209020481955
201390784270225552325223621762127208320411953
20141013312704255623272237217821292086204519651868
20151141782703255523252235217421252081204019621878
201613468927022556232822362175212620842045197219001822
201715272527052557232922362175212620832045197419061837
201816195527042558232922352173212320802041197019031837
201916757527032558232622312168211720742034196218941827

Die Top-1000 haben sich in den letzten 7 Jahren auf einem hohen Niveau eingependelt.
In den Top-20000 bis 40000 sind die Elo-Niveaus abnehmend, trotz stark gestiegener Gesamtspielerzahlen!

Tabelle 4 : Spieler mit aktiv-Status - Bereichsverteilung
Jahr Anzahl
aktiv
≥2700 2600-
2699
2500-
2599
2400-
2499
2300-
2399
2200-
2299
2100-
2199
2000-
2099
1900-
1999
1800-
1899
1700-
1799
1600-
1699
1500-
1599
1300-
1499
1000-
1299
197515342166732255535655825425
198028972128641890210328313414286
19854673210884881200216284156278205
1990918732817778426114644326614
19951517195132011113220636327331364
200129041128442314293589777498285899
2005448251611550515853727795312431115984978162823257
200652382191215241551371580401307013301757731969512663416
20075995422123580157836647991132301444699575246204576422385
20086596324141582159535537600127131464811565735336901642650225
20095794631144607142230015924929811039100087438477625711221466
20106386234165568137828055825927411285106938513624938612109107330
2011764793817857713982897591198611264012604106948210573834052175151
2012854284417758313812925577097791289113505120499835727146724013528
201390784481745561323279856069226127211345712840109728275579057001297
2014101331501795591364286254789405128971404213818123429812734982142960
201511417845179542139627955316906112543140871432613372113339191122557737
20161346894218955214342919521490651270514971157361534013726117691729813702
20171527254419952714642839523889821269415247163361643715363136652224521444
20181619554218956314532894511287001234215165164781679316194145482468826830
20191675754120654114042796498483391196814642160651675216229151262668731790

Auch die Sicht auf die Spieleranzahl je Elo-Bereich zeigt im Bereich 2000-2400 rückläufige Werte.

Um vorliegenden Bericht nicht mit Tabellen zu überladen, wird auf eine weitere Tabelle mitsamt den passiven Spielern verzichtet. Nimmt man die Inaktiven mit in die Liste, so beantwortet dies die Frage wo die Spieler in den abnehmenden Elo-Bereichen geblieben sind. Da ein Spieler auf Lebenszeit in der Elo-Liste bleibt, summieren sich natürlich die im Lauf der Jahre inaktiv gewordenen Spieler hoch. Insgesamt sind 2019 etwa 160000 Spieler als inaktiv gekennzeichnet, von denen etwa 60000 Spieler seit mehr als 5 Jahren keine Elo-Wertung mehr hatten. Nicht wenige haben seit 10-20 Jahren eine unveränderte Elo-Zahl, da man bis zum Lebensende in der Liste bleibt. Da also viele dieser Spieler seit langem inaktiv sind, haben viele von ihnen auch eine Elo-Zahl über 2000, gemäß dem damaligen Rating-Floor als diese Spieler noch aktiv waren. Die Frage warum diese Spieler inaktiv wurden kann hier nicht beantwortet werden. Eher wirft dies eine weitere Frage auf: warum konnten die Nachwuchsspieler in den letzten Jahren diesen Rückgang im Bereich 2000-2400 nicht ausgleichen, sintemal sich gleichzeitig die Anzahl der aktiven Elo-Träger in den letzten 10 Jahren beinahe verdreifacht hat?

Nachfolgend soll der verzerrende Effekt auf die Statistik durch neu hereinkommende Spieler oder ausscheidende Spieler eliminiert werden. Von den Spielern mit aktiv-Status aus 2012 werden deshalb nur diejenigen betrachtet, die auch im Jahr 2019 noch als Elo-Träger geführt werden. Ob diese Spieler dann in 2019 aktiv oder inaktiv sind spielt für die Betrachtung keine Rolle. Es ist nur wichtig zu verstehen, dass es sich 2012 um dieselben Spieler handelt wie in 2019. Über die FIDE-ID lässt sich der Werdegang der Spieler verfolgen.

Tabelle 5: Veränderungen der Elo-Zahlen der aktiven Spieler von 2012 nach Elo-Bereich
Jahr Land Anzahl aktiver Spieler 2012 und deren Zahl 2019 Elo 1200-1599 in 2012 und deren Zahl 2019 Elo 1600-1999 in 2012 und deren Zahl 2019 Elo 2000-2399 in 2012 und deren Zahl 2019
AnzahlØ-AlterØ-EloAnzahlØ-AlterØ-EloAnzahlØ-AlterØ-EloAnzahlØ-AlterØ-Elo
2012Welt8473738192091722814794234339182531067412142
2019Welt8473745191091723515194234346181431067482117
2012GER855145199125545153040444618474079452142
2019GER855152197725552156440445318424079522117
2012FRAU7605401821138738148744624118001669392121
2019FRAU7605471803138745150244624817751669462095
2012RUS619137201017228151628623618462861402153
2019RUS619144200117235157828624318482861472131
2012IND472725165022392014392004281756436302148
2019IND472732163722392714582004351714436372113

Als Ausgangsbasis dienen hier die aktiven Spieler von 2012. Welche Zahlen haben diese Spieler 7 Jahre später?

Tabelle 6: Veränderungen der Elo-Zahlen der aktiven Spieler von 2012 nach Altersgruppen
Jahr Land Anzahl aktiver Spieler 2012 und deren Zahl 2019 Alter 6-10 in 2012 Alter 11-20 in 2012 Alter 21-30 in 2012 Alter 31-40 in 2012
AnzahlØ-AlterØ-EloAnzahlØ-EloAnzahlØ-EloAnzahlØ-EloAnzahlØ-Elo
2012Welt847373819205811498190791763131862012125572008
2019Welt847374519105811802190791846131862009125571979
2012GER855145199171620102718461009203710232074
2019GER855152197772148102719521009205410232058
2012FRAU7605401821391417144616871053193812921929
2019FRAU7605471803391751144617801053194012921901
2019RUS619137201034166819461900107821215592139
2019RUS619144200134193019461964107821135592109
2012IND472725165021614112395158274017796111766
2019IND472732163721616592395162074017206111672

Als Ausgangsbasis dienen hier die aktiven Spieler von 2012. Welche Zahlen haben diese Spieler 7 Jahre später?

Wenn man sich hier frägt, wo der ausgleichende Einfluss von K=40 für Jugendliche bleibt, so ist zu beachten, dass die hier betrachteten Spieler kein geschlossenes System darstellen. Die große Anzahl jährlich neu hinzukommender Spieler außerhalb dieser Statistik erzeugt überlagernde Effekte. Dazu gibt es sehr unterschiedliche Altersstrukturen von Land zu Land. Dennoch ist insgesamt zu erkennen dass die Jugend natürlich ihr Elo-Niveau steigert, während aber das Gesamtniveau leicht rückläufig ist.

Besonders auffällig ist dies in Tabelle 6 bei den indischen Spielern über 20 Jahren zu sehen. Hier ist ein deutlicher Rückgang des Elo-Niveaus zu beobachten, obwohl diese Spieler sich eigentlich im besten Schachalter befinden. Im nachfolgenden Kapitel wird versucht dieses Absinken des Elo-Niveaus mit der Altersstruktur im indischen Schachverband zu begründen.

Das Absenken des Rating-Floors auf 1000

Der Rating-Floor (Mindest-Elo) wurde in folgenden Jahren gesenkt:

Jahr197019932004200620092012
Rating Floor220020051600140012001000

Anmerkung: Der Rating-Floor für Frauen wurde 1987 von 1800 auf 2005 erhöht.

Der Rating-Floor (Mindest-Elo) lag zu Beginn bei 2200 und wurde schrittweise abgesenkt. Dies bewirkte ein immer niedrigeres Eintrittsalters in die Elo-Liste. B ekam man früher mit vielleicht 20 Jahren eine Elo-Zahl, so bekommt man diese heute bereits mit 12 und jünger. Man kann wohl sagen dass jedes Turnier das ein Jugendlicher spielt zur Verbesserung seiner Spielstärke beiträgt. Dennoch bleibt nach einem Jugendturnier das Gesamtniveau der jugendlichen Teilnehmer unverändert, da sie denselben K-Faktor haben. Damit wird die Realität nur unvollkommen abgebildet.

Gerade im Alter von 10 bis 18 ist der Spielstärkeanstieg am stärksten, man nimmt nun also (im Gegensatz zu früher) in diesen Jahren anderen Spielern Elo-Punkte ab. Ein Teil davon kommt von Jugendlichen die wegen schlechter Ergebnisse wieder mit dem Schach aufhören. Da sich die Spielstärke aber bei praktisch allen anderen Jugendlichen in den Jahren von 10 bis 18 erhöht, sind es v orwiegend die Erwachsene Gegner die diesen Elo-Anstieg der Jugendlichen „finanzieren“. In der Folge entstand im neugeschaffenen Elo-Bereich 1000-2000 eine Unterbewertung, die wohl auch in den darüber liegenden Elo-Bereich wirkte.

Also erhöhte man 2014 für Jugendliche den K-Faktor auf 40. Beim Sieg eines Jugendlichen (K=40) gegen einen Erwachsenen (K=20) verbessert sich dieser nun um das doppelte was sich der Erwachsene verschlechtert, der Jugendliche nähert sich damit schneller seiner Spielstärke an, ebenso steigt dadurch das Elo-Gesamtniveau.

Der heutige K=40 wirkt sich vor allem dort aus, wo die Jugendlichen mehr Erwachsene Gegner haben, hier können sie beweisen dass Ihre Spielstärke ihrer Elo-Zahl vorauseilt. Die Wirkung von K=40 hebt aber den dämpfenden Effekt der Jugend auf die Elo-Zahlen der etablierten Spieler nicht komplett auf. Bei einem heutigen weltweiten Elo- Durchschnitt von ca. 1600 sollte ein Jugendlicher der mit Elo 1000 beginnt, in den Folgejahren durchschnittlich um 600 Punkte steigen. K=40 kann die Finanzierung dieses Zuwachs zwar halbieren, die fehlenden Punkte dürften aber von den Gegnern kommen, die bereits ihr Spielniveau erreicht haben (und deshalb gegen unterbewertete Gegner ihre Elo-Erwartung nicht erfüllen können). Unklar ist die Auswirkung der Jugendlichen die Elo-Punkte abgeben und in der Folge mit dem Schach aufhören.

Schon Arpad Elo (1903-1992) sprach von einer deflatorischen Wirkung der Jugendlichen auf die Elo-Zahl. Betrachtet man eine einzelne Partie eines Erwachsenen gegen einen Jugendlichen, so führt nur der Anteil der Unterbewertung des Jugendlichen zu einem unverdienten Verlust an Elopunkten („undeserved losses“). Schachfreund Berthold Plischke gab mir hierzu folgendes Rechenbeispiel: Jugendlicher J (ELO 1600) gewinnt gegen Erwachsenen E (ebenfalls 1600). Dann gewinnt J 40*(1-0,5) = 20 Punkte, E verliert 20*(0-0,5) = -10. Allerdings sind die 10 Punkte Verlust nicht komplett unverdient: Angenommen J hätte bereits die Spielstärke 1700 (bzw. 1800). Dann hätte E eigentlich 20*(0 - 0,36) = - 7,2 verlieren müssen. Also hat er nur ca. 3 Punkte unverdient verloren (bei J = 1800 echt wären es ca. 5 unverdiente Verlustpunkte).

Eine reduzierte Wirkung des K-Faktors zeigt das Beispiel der Jugendlichen in Indien. D ie Mitgliederzahl des indischen Schachverbandes hat sich in den letzten 2 Jahren um 30% erhöht! Die Neumitglieder werden wohl keine Rentner sein. Also viele Jugendliche, kaum Kontakt zum Ausland. Folglich gibt es prozentual weniger Spiel-Begegnungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, vermehrt jedoch Begegnungen der Jugend untereinander. Das Niveau kann sich aber nur ändern, wenn Spieler mit unterschiedlichen K-Faktoren gegeneinander spielen. Angesichts der Expansion im indischen Jugendbereich dürfte damit auch zukünftig der Anstieg des Elo-Niveaus der indischen Jugendlichen gedämpfter erfolgen als der in Deutschland. Im ungünstigsten Fall verstärken sich die Bewertungsunterschiede sogar. In diesen inner-indischen Begegnungen Jugend-Erwachsene dürften zudem die Erwachsenen schlechte Karten haben.

Auch der DSB hatte eine solch starke Anstiegs-Phase wie Indien, in den Jahren 1951-1991 ging es von 25000 auf 90000. Damals gab es jedoch noch keine Elo-Zahlen oder war der Rating-Floor für die meisten Jugendlichen zu hoch.

Sie können sich ja mal folgendes beantworten. Wenn man 100 30-jährige Elo-Träger mit einen Elo-Schnitt von 1800 nimmt und diese in den nächsten 10 Jahren nur gegeneinander spielen lässt, was ist dann das Elo-Niveau dieser 40jährigen? Und dann nimmt man 100 10jährige mit einem Elo-Schnitt von 1100 und lässt diese in den nächsten 10 Jahren nur gegeneinander spielen, was haben die 20jährigen dann für ein Elo-Niveau? Eine ähnliche Situation gibt es ja im Seniorenschach, wo man viel untereinander spielt, was das Elo-Niveau dort etwas konserviert.

Vorschläge zur Berechnung der Elo-Zahl

Mein Dank geht besonders an Schachfreund Berthold Plischke, dem DSB-Referenten für DWZ-Systemkontrolle. Ein kompetenter Wertungsfachmann, dessen Ratschläge um vorliegenden Text leserfreundlicher zu gestalten mir ebenso willkommen waren. Dadurch dass bei der DWZ-Ermittlung ein Spieler bis ins Alter von 25 mit Sonderregeln begleitet wird ist in der DWZ die Integration der Jugend besser gelöst. mit 25 dürfte man seiner erreichbaren Spielstärke nahe gekommen sein. Außerdem war die Jugend von Anfang an im DWZ-Rating-Pool integriert, so dass sich für die FIDE vielleicht ein Blick auf die dortige Vorgehensweise lohnt. Eine interessante Möglichkeit um der Unterbewertung gegenzusteuern kommt seit 2016 in der DWZ-Berechnung zur Anwendung: Liegt die Turnierleistung eines Spielers um mindestens 300 Punkte über seiner vorherigen DWZ, so wird zur DWZ-Berechnung seiner Gegner seine Turnierleistung und nicht seine DWZ verwendet.

Maßnahmen zur Anhebung der Elo-Zahlen

1987 wurden die Elo-Zahlen aller Frauen (außer Susan Polgar) um 100 Punkte erhöht. Es wäre zu überlegen ob man sowas auch mit Ländern machen kann, die als unterbewertet eingestuft sind. Eine solche Erhöhung müsste sich natürlich auf den niedrigen Elo-Bereich beschränken und dort mit Abstufungen erfolgen.

So will man demnächst beim DSB zu niedrige erste DWZ von Einsteigern auf Werte knapp unter 1000 anheben. Man nimmt eine mögliche Überbewertung dieser Spieler in Kauf, davon profitieren in der Folge ihre künftigen Gegner. Solch eine Erhöhung der Start-Elo wäre wohl auch für ein Land wie Indien ein geeignetes Mittel um von unten her der in diesem Bereich starken Unterbewertung gegenzusteuern.

Der K-Faktor für Jugendliche

Um den Spielstärkezuwachs in jungen Jahren besser zu berücksichtigen, könnte man bei einer Partie zwischen zwei Jugendlichen den K-Faktor für den Sieger leicht erhöhen und den K-Faktor des Verlierers leicht senken. Der Sieger würde sich damit mehr verbessern, als der Verlierer sich verschlechtert, das Gesamtniveau steigt. Man müsste dabei allerdings auch der Manipulation gegensteuern, da damit das reine spielen in einem Jugendturnier belohnt wird (zwei Jugendliche spielen gegeneinander 10:10 ohne remis, beide Spieler verbessern sich). Diese Regel könnte aber auch ein Anreiz sein mehr Jugendturniere mit Elo-Auswertung zu veranstalten. Und mehr auf Sieg zu spielen. Ein ähnlicher Bonus ist beim Spiel Erwachsener gegen Jugendliche notwendig, denn nur durch die Erwachsenen kann das Elo-Gesamtniveau der Jugend steigen.

Beispiel:
Bisher: Jugendlicher (K=40) gegen Erwachsenen (K=20)
Neu: Jugendlicher (K=35) gegen Erwachsenen (K=18 bei Verlust, K=20 bei remis, K=22 bei Sieg)
Jugendlicher gegen Jugendlicher (K=32 bei Verlust, K=35 bei remis, K=38 bei Sieg)

Das sind völlig willkürlich gewählte K-Werte, es geht nur um das Prinzip. Diese Regel sollte man auch auf Jugendliche mit Elo<2300 beschränken. Vorerst geht es darum der von unten her wirkenden Deflation gegenzusteuern, da könnte man ruhig kräftiger auf die Tube drücken und auch je nach Auswirkung den K-Faktor jährlich neu justieren. Das würde auch eine etwas offensivere Informationspolitik der FIDE erfordern.

Zusammenfassung

Die Elo-Zahlen haben seit 1970 eine rasante Ausbreitung erfahren. Die niedrige Anzahl an Elo-Trägern in den USA und in China zeigt, dass diese Ausbreitung noch nicht abgeschlossen ist.

Durch das Absenken der Mindest-Elo auf 1000 ist ein stetiger Zustrom niedrigbewerteter Spieler in den Rating-Pool entstanden. Diese Spieler dürften schon allein wegen ihrer großen Anzahl einen dämpfenden Effekt auf die Elo- Zahlen der etablierten Spieler in den darüber liegenden Bereichen ausüben. In Tabelle 4 ist die Dynamik dieses Prozesses sichtbar.
Eine Regeländerung die es Jugendlichen ermöglicht Ihr Elo-Niveau auch in Jugendturnieren zu erhöhen, könnte Druck von den etablierten Spielern nehmen.

Hinweis: diesen Bericht gab es auch in einer sehr verkürzten Form im württ. Newsletter. Auf chessbase gibt es auch eine englische version dieses Artikels. Die Rückmeldungen waren schwach, das mag auch daran liegen dass ein Laie über ein Thema schreibt, zu dem im Internet kaum was zu finden ist.

Nachtrag Oktober 2020: Der Amerikaner Jeff Sonas gilt als Elo-Experte der FIDE. Kürzlich habe ich ihn zum Thema Elo-Deflation angeschrieben und bekam folgende Antwort:

Ich bin definitiv der Meinung, dass wir uns jetzt in einer Welt der Deflation der FIDE-Ratings befinden. Es gibt immer noch einen Effekt, der die Top-Spieler davor schützt, dass ihre Ratings beeinflusst werden, wahrscheinlich weil sie meistens gegeneinander spielen. Aber ich bin mir sicher, dass Aufgrund des Zustroms schwacher, junger, sich verbessernder Spieler es zu einer großen Deflation bei den Ratings kommt. Dies wird jedes Jahr schlimmer und es macht sich allmählich auf den Weg zu den Großmeistern. Der Punkt, den Sie angesprochen haben, dass die jüngeren Spieler ihre Jahre des Spielstärkezuwachs zuvor außerhalb des Ratingpools verbracht haben, ohne einen Einfluss auf den Pool der bewerteten Spieler zu haben, Ich stimme zu, dass in deren Hereinnahme in den Ratingpool eine Hauptursache der Deflation zu sehen ist …

Jeff Sonas

Jeff Sonas mit seiner umfangreichen Datenbank hat die Möglichkeit einzelne Spiele auszuwerten, auf diese Art kann er ermitteln inwieweit ein Land bei der Begegnung mit Spielern anderer Länder die Elo-Erwartung übertrifft bzw. unterschreitet. Die Abweichungen sollen in einer Art Weltlandkarte dargestellt werden. In der vorläufigen noch unveröffentlichten Version ist Deutschland mit +36 Elo-Punkten überbewertet, während z.B. die Türkei mit -78 Punkten eines der am stärksten unterbewerten Ländern ist. Laut Jeff Sonas wird in der FIDE die Elo-Deflation Thema werden.

  Walter Wolf, Februar 2019