Die WEM 2012 im Illertisser Vöhlinschloss


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Wie oft hatte ich mich schon über diesen seltsamen Namen gewundert "Jedesheim"? Wo um Himmels Willen liegt das denn? Offenbar bringt der Schachverein erstaunlich viele starke Spieler hervor. Dank der Württembergischen Einzelmeisterschaft 2012 habe ich nun eine sehr schöne Gegend dort im württembergisch-bayrischen Grenzgebiet im Landkreis Neu-Ulm kennen gelernt. Schwaben ist übrigens auf beiden Seiten der Grenze. Jedesheim ist ein Dorf bei Illertissen von weniger als 1400 Einwohnern und formal heute wohl ein Stadtteil von Illertissen, das selbst auch nicht gerade eine Ries enstadt ist. Die Jedesheimer Schachspieler haben sich dem Württembergischen Schachverband angeschlossen, und in diesem Jahr richteten sie die WEM keineswegs zum ersten Mal aus. Und sie konnten den Spielern ein tolles Ambiente bieten. Dank des herrlichen Sommerw etters, das wir Ende August hatten, wirkte das Vöhlinschloss umso beeindruckender. Die alte Burg Tissen der Grafen von Kirchberg aus dem 12./13.Jahrhundert kam 1520 in den Besitz der reichen Memminger Familie Vöhlin und trägt seitdem deren Namen. Einige Fotos haben wir auf der Vereinsseite unter den News vom 25.08.2012

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Aber ein Problem war wohl die Entfernung zu den wür ttembergischen Zentren, z.B. 125 km von Stuttgart. Wer möchte sich schon eine Woche Url aub mit Übernachtung außer Haus leisten, nur um eine Württembergische Meisterschaft mitzuspielen? So haben vor allem im Kandidatenturnier die Teilnehmer aus Jedesheim / Illertissen, Ulm, Biberach und anderen oberschwäbischen Orten dominiert. Einige Spieler au s dem Unterland, nämlich Frank Amos, Andreas Meschke, Bernhard Förster, genossen bei sch önstem Sommerwetter einen Campingurlaub im gemieteten Caravan, während andere das gediegene Hotel am Schloss direkt auf der anderen Seite des Burggrabens vorzogen. Dort hätte ich selbst auch sehr gerne diniert und genächtigt. Aber kurz vor Turnierbeginn musste ich meine Reservierung zurückziehen, als klar wurde, dass ich mich wegen zahlrei cher Probleme in verschiedenen Projekten meiner urlaubenden Kollegen an jedem der fünf Werkt age morgens für mindestens vier Stun- den bei meiner Arbeit auf dem Stuttgarter Pragsattel sehen lassen musste, bevor ich so ab 12:20 Uhr Richtung Illertissen fahren durfte. So kenne ich nun jeden Blitzer und jedes Klohäuschen auf der Strecke nach Ulm über Mühlhausen u nd Merklingen bestens und jeden Tag war Fahrspaß auf der A8 angesagt.

Im Meisterturnier waren lediglich 16 Spieler gemeldet, so dass man laut Satzung durch die schlichte Teilnahme bereits für die Meisterschaft 2013 vorqualifiziert war ohne sich durch irgendwelche Kandidatenturniere quälen zu müssen. Dennoch kam ein respektables Teilnehmerfeld zustande, denn der TWZ-Schnitt (TWZ = Maximum von ELO und DWZ) betrug laut Meldeliste zwei Tage vor Beginn immerhin 2220 Punkte, mit mir auf dem vorletzten Platz der Startrangliste.

Nach der langen Vorrede komme ich nun endlich zum Turnierverlauf. Zur Orientierung nehme ich einfach mal die täglichen Überschriften des Berichts der Turnierleitung.

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Hätte ich auf den Sieger wetten müssen, so wäre unser Ex-Jedesheimer Neuzugang Jaroslaw Krassowizkij mein Tipp gewesen, der sehr ehrgeizig ist und zuletzt in Österreich so erfolgreich war, während Andreas Reuß bei seinem letzten Auftreten bei einer WEM vor zwei Jahren in der Stuttgarter Friedenau zu zahm spielte um an frühere Erfolge anknüpfen zu können.

Meine erste Überraschung war der Gegner. Ich hatte mich auf Latzke vorbereitet, bekam aber Namyslo. Denn die Startrangliste hatte sich am ersten Tag noch doppelt verändert. Zunächst spielte Vadim Reimche (2103 / SF Ravensburg) anstelle Roland Meyer (2204 / SF Vöhringen). Außerdem wartete unser „Top Seed“ Jaroslaw Krassowizkij (2420 / Stuttgarter SF 1879!!) an Brett 1 vergeblich auf den Ranglisten-Neunten und Titelverteidiger Thilo Kabisch, der immer für Überraschungen gut ist, nicht nur am Schachbrett. In meinem Eintrag auf unserer News-Seite fragte ich daher. "Ist das sein erster Schritt auf dem Weg zum Titel?". Es sollte zwar anders kommen, aber die wichtige Qualifikation zur DEM 2013 hat Jaroslaw geschafft. Im Kandidatenturnier ging ebenfalls ein Teilnehmer verloren, so dass man Hans-Michael Stiepan (2100 / SV Jedesheim) kurzer Hand vom Kandidatenturnier ins Meisterturnier verlegte, um in beiden Turnieren eine gerade Teilnehmerzahl zu haben.

Eine für mich persönlich völlig unbekannte Größe war der Lokalmatador Dimitrij Anistratov. Er nahm wohl seine Schwarzpartie gegen den Sieger des Lauffener Kandidatenturniers 2011 ein wenig zu locker. Wie üblich mit Schwarz spielte er ein wenig pille palle, im Wesentlichen auf Fehler des Gegners wartend. Dieses Mal aber vergeblich. Bernhard Förster verwertete seinen Mehrbauern im Endspiel und besiegte Anistratov souverän.

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Bis auf das Biberacher Duell Namyslo – Weiß aus meiner Sicht keine besonderen Vorkommnisse. Leider wurde ich mit meinem halben Punkt von der Erstrundenpartie gegen Namyslo nach unten gegen einen der Verlierer vom Vortag gelost wurde: Anistratov ! Von meinem Trainer hatte ich die strenge Order spätestens im vierten Zug b7-b5 zu ziehen. Hab’s gemacht, und daran lag’s auch nicht. Später unterschätzte ich in einer komplizierten, für mich eher vorteilhaft erscheinenden Abwicklung die weißen Chancen in einer Nebenvariante ein wenig und verlor schnörkellos. Jaroslaw und Andreas gewannen ihre Partien sicher. Favoritenduelle habe ich in dieser Runde eigentlich keine gesehen. Dagegen wartete ich im Biberacher Duell nach dem frühen Figurenopfer Holger Namyslos gegen das Rubinstein-Französisch seines Vereinskameraden Oliver Weiß auf die alle Zuschauer völlig überraschende Zugwiederholung .... vergeblich! Namyslo verlor chancenlos. Möglicherweise kann man gegen die Fort-Knox-Variante im Rubinstein-Franzosen doch nicht einfach so im siebenten Zug eine Figur opfern.

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Im Spitzenduell SSF gegen SSF versuchte es Andreas Reuß lange, konnte am Ende aber nicht gegen Jaroslaw gewinnen. Also remis am Spitzenbrett und sonst keine besonderen Vorkommnisse.

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Andreas Reuß konnte den nicht zu unterschätzenden, vielleicht etwas unterbewerteten Thomas Imhof (2081 / SG Vaihingen-Rohr) sicher schlagen, während ich zu gerne wüsste, wer am Spitzenbrett wen zuletzt überraschen konnte. Bei Georg Braun – Jaroslaw Krassowizkij kam die Bauernraub-Variante der Schottischen Partie auf’s Brett! Seit wann spielt Jaroslaw e7-e5 nach e2-e4, seit wann spielt Georg Braun (2218 / SK Bebenhausen) Schottisch und wer traut sich schon dieses 4...Dd8-h4? Weiß macht zwar einen deutlich positiven Score. Aber so einfach ist das für Weiß gar nicht zu spielen. Jaroslaw konnte den Mehrbauern verteidigen, aber für einen Sieg war seine Stellung meist zu passiv.

Ich persönlich konnte auf meine Vorbereitung für die erste Runde zurückgreifen und mit 1.d2-d4 Boris Latzke sicher besiegen.

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In der fünften Runde profitiert Anistratov vom großen Favoriten-Sterben. Er selbst gewinnt mit Schwarz gegen Andreas Reuß und Jaroslaw Krassowizkij verliert mit Weiß gegen mich. Für den Abend war ein Besuch von GM Artur Jussupow, Jugendweltmeister 1977 und ehemaliger Weltranglistendritter angesagt. Er wohnt seit langem im benachbarten Weißenhorn. Ich nutzte die Gelegenheit um mir ein Autogramm ins nie gelesene Tigersprungbuch schreiben zu lassen.

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Anistratov übte lange Druck aus und erreichte am Ende ein Turmendspiel mit einem Mehrbauern. Aber gegen Jaroslaws umsichtige Verteidigung konnte er nicht ernsthaft auf einen Sieg hoffen. Also Remis an Tisch 1.

Zwei Runden später sollte Andreas Reuß mit seinem Caro-Kann ganz trocken gegen Georg Brauns Panov-Angriff gewinnen. Trotz einiger eigener Erfolge mit dem Panov-Angriff hatte mein Trainer beschlossen, dass ich es mit der Vorstoß-Variante versuchen solle und erreichte diese Stellung. Man glaubt es kaum, dass die Eröffnung Caro-Kann war.

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Leider scheitert das nahe liegende 14.Lxf7+ Sxf7 15.Se6 Da5 16.Lb6 an dem Damenschach auf e5, denn das Feld c7 ist dann gedeckt und Schwarz kann den Lb6 nehmen und gewinnen. Ich konnte keinen Gewinn finden und entschloss mich daher nach längerem Nachdenken das Remis zu erzwingen: 14.Lxf7+ Sxf7 15.Se6 Da5 16.Td5 b5 17.Db4 und Remis. Stattdessen hätte Weiß mit 14.Lxf7+ Sxf7 15.Se6 Da5 16.O-O mehr versuchen können. Das hatte ich aber nicht gesehen.

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Wenn man als Underdog vom viertletzten Platz der Startrangliste beginnt, so gefällt einem eine solche Überschrift verdammt gut !! An den Tischen 1 und 2 kamen Anistratov und Reuß gegen starke Gegner über ein Remis nicht hinaus, während mir an Tisch 3 ein knapper und Jaroslaw an Tisch 4 ein souveräner Sieg gelangen.

An den Tischen 1 und 2 kamen Anistratov und Reuß gegen starke Gegner über ein Remis nicht hinaus, während mir an Tisch 3 ein knapper und Jaroslaw an Tisch 4 ein souveräner Sieg gelangen. (Siehe dazu auch: Verpasste Chancen (4) – Rückblick auf die württembergischen Einzelmeisterschaften)

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In dieser Runde konnte Anistratov an Tisch 1 den Jedesheimer Schachurlauber Römer besiegen, während mir ein wenig Mumm fehlte um mit Weiß gegen Weiß wirklich auf Gewinn zu spielen. Bemerkenswert in dieser Runde war die Partie Namyslo – Krassowizkij. Mit dem sizilianischen Flügelgambit konnte Namyslo eine klare Gewinnstellung erreichen. Aber er spielte hier, wie auch sonst öfters im Turnier, irgendwie unglücklich und verlor am Ende.

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Vor der letzten Runde war für mich klar, dass Anistratov als Sieger durch ist, während bei Punktgleichheit Andreas Reuß nach Buchholzpunkten hinter mir liegen sollte und Jaroslaw Krassowizkij einen Buchholzpunkt mehr haben würde. Zwischen uns Dreien ging es ja auch um die zwei Plätze für die Deutsche Einzelmeisterschaft 2013.

Aber es kam anders. Anistratov hätte nach 10 Zügen Remis anbieten und seinen Meistertitel nach Hause bringen können. Stattdessen unterschätzte er den starken Georg Braun, verlor und verschenkte so den Meistertitel leichtfertig. Jaroslaw kam gegen Oliver Weiß über ein Remis nicht hinaus - womit ich gerechnet hatte – und Andreas Reuß kämpfte und kämpfte und gewann am Ende gegen Latzke – womit ich eigentlich auch gerechnet hatte. Mein Gegner Ulrich Römer hatte nach 1.d4 d5 2.c4 dxc4 zehn Minuten intensiv nachgedacht um am Ende den Zug 3.e3 zu finden mit gleichzeitigem Remisangebot. Es ist sehr hart an dieser Stelle als Underdog mit Schwarz Remis abzulehnen, zumal ich jamit dem angenommenen Damengambit eigentlich sowieso auf Remis spielte. Folglich willigte ich in den sehr frühen Friedensschluss ein und beschloss die Wartezeit bis zum Ende der anderen Partien zu einem Ausflug in die Umgebung zu nutzen.

Im benachbarten Weißenhorn ist ein altes Stadttor erhalten, auf das eine Szene aus den Bauernkriegen gemalt wurde. Man sieht wie an derselben Stelle vor fast 500 Jahren ein Anführer der Bauern mit dem Bürgermeister zunächst friedlich um den Einlass in die Stadt verhandelt. Daraus wurde aber nichts, und die ganze Sache endete für die Bauern später in einem grausamen Massaker.

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Nach meiner Rückkehr blieb mir dann nur an Andreas Reuß meinen herzlichen Glückwunsch zu seinem dritten Meistertitel auszusprechen und Jaroslaw zur Qualifikation zur DEM 2013 zu gratulieren!

Ich selbst kann als Trostpreis für mich allenfalls die zweitbeste DWZ-Leistung des Turniers in Höhe von 2314 Punkten verbuchen.

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Im Hintergrund Verbandspräsident Bernhard Mehrer und Schiedsrichter Fritz Gatzke

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Noch ein paar Links:

  Claus Seyfried, 07.09.2012

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